Friedrich Kirchner
Am Grabe Heinrichs von Kleist

Der Vorzeit Gestalten
Erscheinen so groß,
Sie scheinen ja zu halten
Die Gottheit im Schoß.

Wir steh’n und erheben
Der Himmlischen Stern,
Es dünket uns ihr Leben
So glänzend, ach, so fern!

Doch willst du betrachten
Ihr Leben genau,
So wird es bald umnachten
Ein neblichtes Grau.

Sie haben gerungen
Ohn‘ Ende wie wir,
Bis sie emporgedrungen
zur ewigen Ruhmeszier.

War einer geborgen
Vor irdischer Not,
So sah von andern Sorgen
Er sicher sich umdroht.

Wenn immer vergebens
Sein rastlos Bemüh’n,
Die Blumen seines Strebens
Nie wollten ihm erblüh’n.

Wenn keiner beachtet
Sein mahnendes Wort,
Man nur verhöhnt, verachtet,
Was Heil ihm war und Hort.

Sein Sehnen nach Wahrheit
War nimmer gestillt,
Wohl ahnet er die Klarheit,
Doch immer nur im Bild!

Dies innerste Sehnen,
Es weicht von ihm nie,
Bald wird’s zu heißen Tränen,
Bald wird’s zur Melodie.

Was immer gelungen
Von bleibendem Wert –
Dem Schmerz ist es entsprungen,
Er hat es uns bescheert!

1896


Friedrich Kirchner
Aus: Minde-Pouet (1927), S. 15-16.