Rainer Maria Rilke
An Heinrich von Kleists wintereinsamem Waldgrab in Wannsee
Wir sind keiner klarer oder blinder,
wir sind Alle Suchende, du weißt, –
und so wurdest du vielleicht der Finder,
ungeduldiger und dunkler Kleist.
Eng und ängstlich waren dir die Tage,
bis dein Weh den letzten wild zerriß –
und wir Alle klagten deine Klage,
und wir fühlten deine Finsternis.
Und wir standen oft an tiefen Teichen,
denen schon das Nachten nahe war,
und wir nahmen Abschied von den Eichen,
und wir kamen unsern Bräuten reichen
letzte Rosen aus dem letzten Jahr.
Aber zagend an dem Rand der Zeit
lernten wir die leisen Laute lieben,
und wir sind im Leben lauschen blieben
still und tief und wund von jungen Trieben –
und
da wurden uns die Wurzeln breit.
14. Januar 1898
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Erstdruck in: Briefe aus den Jahren 1907-1914. Leipzig 1933. S. 382-383.
Wiederabdruck: Sembdner (2. Aufl. 1985), S. 22.