Jörn-Peter Dirx
Henriette & Heinrich

"Er lebte, sang und litt
In trüber, schwerer Zeit,
Er suchte hier den Tod
Und fand Unsterblichkeit."
(Matth. 6.V. 12)

Heinrich küsste ihre Stirne
Und sie sagte: "Ja, ich will!"
Oben kreisten die Gestirne,
Unten lag der Wannsee still.

Nebenan im Gasthof lachte
Noch die Magd beim Bettenmachen.
In den beiden kleinen Zimmern,
Die durch eine Tür verbunden,

Unberührt die beiden Betten.
"Komisch diese Stadtleut?!" denkt sie.
"Jetzt im Grase, möcht ich wetten,
Küssen sie sich Mund und Brüste."

Und der Wannsee leuchtet glitzernd
Wie quecksilbern in der Sonne
Und die leichten Schäfchenwolken,
Spiegelnd schwimmen sie vorüber.

Sie erwidert seinen Kuss,
Küsst ihn auf die glühend' Wangen,
Und er sagt: "Ja, ich muss!"
Und sie nickt nur – unbefangen.

Heinrich greift sich die Pistole,
Zögert und verlangt nach Wein.
"Hätt ich Ansehen, hätt ich Kohle,
Müsste dieses End' nicht sein."

"Heinrich", spricht sie, "Heinrich, Liebster,
Heinrich, ach mir graut vor Dir.
Denk an Deine schönen Lieder,
Sei nicht ängstlich, sei mit mir.

Denk doch nicht an Ruhm und Ehre,
Denk doch nicht an Geld und Gut,
Nimm die Knarre, knall mich nieder,
Sonst verspürst Du meine Wut."

"Hen-ri-ette", ruft er stockend,
"Ach, Du bist ein Teufelsweib,
Stark & mutig & verlockend.
Leider ham wir keine Zeit,

Uns zu lieben und zu bocken.
Komm, lass mich mal unters Kleid
Schnell noch mal die Liebe rocken,
Denn der Tod ist nicht mehr weit.

"Nein!" spricht Henriette spröde,
"So was könnte auch mein Mann,
Der im Grunde stumpf & öde
Und nur Zahlen lesen kann."

Und der Wannsee leuchtet glitzernd
Wie quecksilbern in der Sonne
Und die leichten Schäfchenwolken,
Spiegelnd schwimmen sie vorüber.

"Gut!" sagt Heinrich und erzittert.
In der Luft singt ein Pirol,
Und dann greift er, weltverbittert,
Noch einmal nach der Pistol.

In dem Gasthof, in dem Kruge,
Hört man zweimal einen Schuss
Und die Wirtin denkt sehr kluge,
Dass sie neu vermieten muss.

Und der Wannsee leuchtet glitzernd
Wie quecksilbern in der Sonne
Und die leichten Schäfchenwolken
Spiegelnd schwimmen sie vorüber.


Aus: Kleist & ich. Annäherung und Begegnung. Anthologie Kleist-Literaturwettbewerb 2011. Hrsg.: Freier Deutscher Autorenverband (FDA), Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Landesverband Brandenburg e. V., in Kooperation mit dem Kleist-Museum, Frankfurt (Oder). Storkow (Mark): Ed. Märkische LebensArt 2012. S. 96
© 2011 Jörn-Peter Dirx. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.