Hajo Fickus
am wannsee
Nun, o Unsterblichkeit bist du ganz mein
ihr grab am wannsee kleist
schön im grünen gelegen
ein bisschen zu nahe am ruderclub vielleicht
angenehm schlicht
abgesehen vom pathos der inschrift
ein gebrauchtes kondom im gebüsch daneben
schützt einen immerhin vor zu viel feierlichkeit
auf dem grabstein eine weiße nelke
vielleicht von ihrer schwester ulrike
oder von ihrem freund rühle
die als untote auf der bank beim grab sitzen
ein bisschen putzig auch
das kleine grabsteinchen
der henriette vogel neben ihrem
auch im tod
sind eben doch nicht alle gleich
ihr tod am wannsee
war er wirklich
von so unaussprechlicher Heiterkeit
wie sie in ihren abschiedsbriefen
schon mit halbem blick
auf die literaturgeschichte schreiben
oder haben sie vielleicht doch insgeheim darauf gerechnet
dass der operator ihre verabredung mit
henriette im chatroom verfolgt
und ihnen jemanden hinterherschickt
um das schlimmste zu verhüten
wie ihrem dorfrichter adam
oder dass jemand in letzter sekunde
ein trugbild eine Augentäuschung
ein traum was sonst sagt
wie zu ihrem prinzen von homburg
oder dass gar ein erdbeben
ein tsunami in chili
in lissabon in fukushima am wannsee
die tat mit schwarzer ironie verhindert
wie bei ihrem jeronimo rugera
immer schon verliebt ins bodenlose
in den absturz
immer schon mutig vor allem im wegwerfen
die karriere die wissenschaft das leben
machen sie uns die prämortale euphorie dessen vor
dem auf erden nicht zu helfen war
wie ihrem wutbürger kohlhaas
der sich mit der gebrechlichen einrichtung der welt
nicht so leicht abfinden wollte
wie ihre marquise von o
dabei wussten sie natürlich
dass man die welt so und auch anders betrachten kann
durch verschiedenfarbige brillengläser
das hatte sie doch kant gelehrt
aber die rosaroten waren wohl gerade ausverkauft
immerhin effektvoll inszeniert
dieser doppelsuizid
ihr größter theatercoup
erstaunlich stilsicher für einen
der nie eines seiner stücke auf der bühne sah
erstaunlich graziös
tisch und stühle mussten gebracht werden
trotz der novemberkälte
an das ufer des sees
in den sie steinchen springen ließen
ausgelassen wie kinder
sie ließen sich kaffee servieren
nach einer schlaflosen nacht
zu zweit in den zimmern des kleinen hotels
briefe schreibend redend
haben sie miteinander geschlafen
in dieser letzten nacht
wahrscheinlich nicht kleist
obwohl der gatte der frau vogel
wohl nichts dagegen gehabt hätte
aber sie waren ja kein jupiter
und die penetration mit pulver und blei
der orgasmus des todes
sollte wohl nicht mit dem
banal-fleischlichen zusammenspiel der körperteile
verwässert werden
immer korrekt bis zuletzt
bezahlten sie noch den kaffee
von ihrem letzten geld
wie tranken sie ihren kaffee damals kleist
mit zucker und milch
oder schwarz
und sei es nur der symbolik wegen
immer gentleman bis zuletzt
ersparten sie ihr
der frau vogel
der henriette
den eigenhändigen schuss
schossen sie ihr
ins herz
und als sie so dalag
die henriette vogel
und nichts mehr sagte
noch nicht einmal
ach
haben sie vielleicht die leiche noch ein wenig
zurechtgerückt
des effektes wegen
bevor sie sich selbst in den mund schossen
nichts mehr sagen müssen
endlich schweigen endlich tod
gut angesetzt ihr schuss
das richtige kaliber gewählt
dass es ihnen
die hirnschale nicht wegsprengte
immer ästhet bis zuletzt
immer romantiker bis zuletzt
auch wenn die romantiker
sie nicht wirklich verstanden
trotz ihrer kätchen-marionette
und der alte
aus diesem grauenvoll provinziellen weimar
der ihren krug verhunzte
und sie 22 jahre überlebte
erst recht nicht
büchner vielleicht
oder virginia woolf
kafka bestimmt
aber die hatten alle ihr todkrankes leben
noch vor sich
jemand wie ernst toller vielleicht
am ende
einsamer noch als sie
auf der flucht vor den nazis
in einem new yorker hotelzimmer
in der schlinge von der decke baumelnd
haben sie einmal daran gedacht
nach amerika zu gehen
old henry goes west
vielleicht hätten sie winnetou getroffen
vielleicht wäre ihnen elvis begegnet
im heartbreak hotel
ein marionettentänzer sondergleichen
der sich traute zu zeigen
dass der schwerpunkt immer im becken liegt
i'm so lonesome i could die
oder andy warhol
der eine maschine sein wollte
oder jimi hendrix
oder bob dylan
die ihre vergöttlichung der unmittelbarkeit verstanden hätten
don't think twice, it's all right
oder dir wäre kurt cobain über den weg gelaufen
aber der hat wohl eher noch
hemingway kopiert
als er sich den lauf der waffe in den mund schob
– ob heminway dich je gelesen hat –
habe ich sie gerade versehentlich geduzt
sorry, kleist
ein rückfall in die alten zeiten
einer spätpubertären studentendepression
damals
bildete ich mir ein sie zu kennen
sie zu verstehen
teilte ich ihren weltschmerz
redete ich sie in einem schlechten gedicht
mit heinrich an
und duzte sie
bleiben wir beim sie kleist
keine plumpen vertraulichkeiten
zweihundert jahre abstand
sind nicht so leicht zu überspringen
und was geht uns schließlich
die melancholie eines toten dichters an
so wenig wie seine unterhosen
was kümmerts uns
was er in würzburg in paris in thun
oder sonst irgendwo getan hat
vor zweihundert jahren
ob er nun knaben oder doch die frauen liebte
und dennoch mischt sich das biographische
unweigerlich in die texte ein
der dramatiker zwischen die bühnenfiguren
das leben in die erzählungen
die briefe in den aufsatz
über das marionettentheater
den sie ein jahr vor ihrem tod schrieben
und in die cleveren gedankenspiele
über grazie und anmut
die frage
warum eigentlich dieser tod kleist
aus gekränkter eitelkeit
bilanz eines verpfuschten lebens mit 34 jahren
bankrott und erfolglos ohne stellung in der welt
gescheitert als soldat student bauer schriftsteller
als journalist von der preußischen zensur gedemütigt
als bauer mein gott der grüne kleist
der seine offizierskarriere aufgibt
um landwirt zu werden
schwerter zu pflugscharen
aber die verlobte wie hieß sie doch gleich
wilhelmine aristokratentochter
ist natürlich entsetzt darüber
und nimmt abstand
und der schriftsteller
der goethe den lorbeer
vom kopf reißen will
wenn sich alle umbringen wollten
denen das nicht gelingt
na ja ein bisschen ruhm zu lebzeiten
oder wenigstens ein wenig mehr anerkennung
hätte ihnen natürlich gut getan
und doch immer wieder projekte
immer wieder ein neuer und unbedingter lebensplan
aber da war kein obdach auf dauer
kein ort nirgends
das antigrave
die ganz große leichtigkeit und coolness
sind ja vielleicht wirklich nur im tod zu haben
alles lebende riecht immer ein bisschen
nach schweiß
aber vielleicht macht das ja gerade
einen guten tänzer aus
dass er die schwerkraft fast
aber eben nur fast
vergessen lässt
und vielleicht sehnen wir marionetten
die mal wieder keiner fragt
uns in wirklichkeit
nach diesen paar tropfen schweiß
auf der stirne
ihr grab am wannsee kleist
schön im grünen gelegen
angenehm schlicht
trotz der grabinschrift
aus ihrem prinzen
jetzt
200 jahre nach ihrem tod
rücken die gartenbagger an
um es aufzuhübschen
ulrike und rühle wurden schon gebeten
ihre parkbank zu verlassen
lassen sie sich in ihrem schlaf nicht stören kleist
ruhen sie sanft
vielleicht tanzt herr c. ja trotzdem noch
manchmal nachts den blues auf ihren grab
tryin’ to get to heaven before they close the door
und vielleicht
fällt ja jemandem auch ein besserer grabspruch ein
Das Leben nennt der Derwisch eine Reise,
Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen
Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter.
© 2011/2018 Hajo Fickus
Überarbeitete Fassung
Ursprünglich erschienen in: Kleist & ich. Annäherung und Begegnung. Anthologie Kleist-Literaturwettbewerb 2011. Hrsg.: Freier Deutscher Autorenverband (FDA), Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Landesverband Brandenburg e. V., in Kooperation mit dem Kleist-Museum, Frankfurt (Oder). Storkow (Mark): Ed. Märkische LebensArt 2012. S. 40-42
Mit freundlicher Genehmigung des Autors