Adolf Bartels

Heinrich von Kleist


21. Nov. 1811

Dem Kleistforscher Herrn Dr. Karl Siegen in Leipzig zugeeignet.

Novemberhimmel spiegelt sich im See,
Novembersturm braust durch die kahlen Bäume.
O, schwebe nun hernieder, zarter Schnee,
und zaub’re weiß des Waldes graue Räume!

Auf engem Pfad dem See zu kommt ein Paar,
Das trockne Laub rauscht unter seinen Tritten,
Und als es nimmt des Wasserspiegels wahr,
Ist es zum Ufer langsam vorgeschritten.

Ein seltsam Paar: In beider Antlitz steht
Von bitt’ren Seelenqualen viel geschrieben.
Ihr Blick – mir ist, als hätt’ er oft gefleht
So rührend stumm: O laßt, o laßt mich lieben!

Doch um die Lippen, welch’ ein herber Zug!
Wie er von Weltverachtung möchte sagen,
Scheint mir die Stirn, was sie auch einmal trug,
Den Stempel des Entschlusses nun zu tragen.

An eines Baumes Stamm lehnt sich der Mann,
Das zarte Weib steht schweigend ihm zur Seite.
Als wären beide unter tiefem Bann,
Schweift träumerisch ihr Auge in die Weite. —

Novemberhimmel spiegelt sich im See,
Novembersturm braust durch die kahlen Bäume.
»O, tiefer als der See ist Menschenweh,
Und wie die Blätter welken Menschenträume.

Die Thränen, die in Deutschland man geweint,
Daß solches Elend kam dem Vaterlande,
Säh’ ich sie hier in diesem See vereint,
Sie füllten ihn gewißlich bis zum Rande.

Die Träume, die dies glüh’nde Herz gehegt,
Sind zahlreich wie am stolzen Baum die Blätter.
Nun ward die Axt an seinen Stamm gelegt,
Die Blätter nahm ihm längst das wilde Wetter.«

So spricht der Mann, und da, noch einmal ziehn
An ihm vorbei die lieblichen Gestalten,
Sie, denen er die Lebenskraft verliehn,
Und wollen ihn noch fest am Leben halten.

Ihm ist, als winkte dort die zarte Hand
Des treuen Käthchens mit den süßen Augen;
Doch nein, Penthesilea war’s; sie schwand,
Um des Geliebten rotes Blut zu saugen.

Ist das nicht Hermann, der in heißer Schlacht
Befriedigt jüngst sein glühendes Verlangen?
Nein, Homburg ist’s; er ruht in Kerkernacht,
Die Seele voll von schaur’gem Todesbangen.

»Weg, weg! Und niemals taucht ihr mehr empor,
Nie werd’ ich neue noch zu leben heißen.
Ich unterlag, der ich mich einst verschwor
Den Lorbeer Goethe von der Stirn zu reißen.

Er wandelt wie die Sonn’ am Firmament,
Und unentwegt schaut er auf uns hernieder.
Ich bin ein Meteor, das hell nun brennt,
Doch, ach, auf einmal ist’s erloschen wieder.

Ich ahnt’ es längst; und ob sich auch mein Herz
Zusammenzog, und ob die Hand sich ballte,
Ich wußt’ es dann und ach, in düst’rem Schmerz
Ich ruh’- und rastlos durch die Lande wallte.

O Gott, du gabst mir viel, doch nicht genug.
Wohl sah ich, wo Homer und Shakespeare thronen,
Doch trug mich nie zu ihnen hin mein Flug –
Ich sah das Land, doch durft’ ich nicht d’rin wohnen.

Und darum« — und er wendet sich zu ihr,
Die sinnend bei ihm steht und weckt sie leise:
»Du, Freundin, zeigtest diese Straße mir
Und leistest mir Gesellschaft auf der Reise.

Wohlan! Du bist bereit, ich seh’ es wohl.
Gott möge uns die Eigenmacht vergeben!
Die Augen zu! Gespannt ist das Pistol!«
Ein Schuß, noch einer. »Fahre wohl, o Leben!« –

Novemberhimmel spiegelt sich im See,
Durch kahle Bäume saust des Sturmes Schrecken.
O, schwebe nun hiernieder, zarter Schnee,
Die Leichen sanft mit weichem Tuch zu decken!


Adolf Bartels (1862-1945)
In: Minde-Pouet, S. 11-13.
In: Adolf Bartels: Ausgewählte Dichtungen. Wessenburen: Groth 1887. S. 44-46 (»Heinrich von Kleist. 21. Nov. 1811«)
Textfassung hier aus: Bartels, Adolf: Gedichte. Leipzig: Reißner 1889. S. 199-201.