Franz Keim
Das Grab von Wannsee
Deutsche Jugend, wo du immer
Pilgerst mit dem Wanderstab,
Sonnenschein und Sterngeflimmer
Führe dich an dieses Grab.
Jugend, mit bewegtem Herzen
Bete, wo der Hügel grünt,
Dieses toten Sängers Schmerzen
Hat die Zeit noch nicht gesühnt.
Er empfand das große Leiden,
Das auf Deutschlands Seele lag,
Aber ach, er mußte scheiden
Vor dem Auferstehungstag.
In die düsterste der Nächte
Sank er, die kein Licht erhellt,
Der Verzweiflung dunkle Mächte
Haben ihm sein Grab bestellt.
Nicht der große Weltbezwinger,
Nicht der siegreich fremde Mann
War für ihn der Todesbringer –
Unser Kleinmut hat’s getan.
Einen Weltbrand zu entzünden
Hatte er den stolzen Mut,
Doch der Furcht Philistersünden
Krankten Fürst und Volk im Blut.
Seinen Geist befiel das Grauen
Unverstandener Einsamkeit,
Und er sollte nicht mehr schauen,
Wie sein Deutschland sich befreit.
Höchstes hat er sich ersungen
Ohne Dank vom Vaterland,
Furchtlos sich den Tod erzwungen,
Sterbend von der eignen Hand.
Deutsche Jugend, walle, walle
Zu des edlen Sängers Grab,
Deiner Liebe Gruß erschalle
Zu dem Toten tief hinab:
Habe Dank für deine Schmerzen,
Sei entsühnt erhabner Geist!
In der deutschen Jugend Herzen
Lebe fort, Heinrich von Kleist!
Franz Keim (1840-1918)
Aus: Keim, Franz: Gesammelte Werke. Bd. 2: Die Brüder von Marathon / Der Königsrichter / Lieder aus der weiten Welt. München: Georg Müller 1912. S. 351-352.