Sascha Feuchert

Weiße Flecken und wunde Punkte
Nichts Neues in Sachen Kleist: Auch die Höchstbegabtensammlung Adele Judas lüftet keine Geheimnisse

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 7. 1997


Die Literaturwissenschaft ist ein unspektakuläres Geschäft. Nur selten sichern ihr Sensationsfunde die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. In jüngster Zeit genügte sogar die Aussicht, einen Schatz zu bergen, um Fach- und Laienwelt gleichermaßen in Aufruhr zu versetzen. Das lag vielleicht am betroffenen Autor: Neue Zeugnisse aus dem geheimnisvollen Leben Heinrich von Kleists sollten kurz vor der Entdeckung stehen.

Reinhard Pabst, von Haus aus Büchner-Herausgeber, hatte über die Höchstbegabtensammlung der Adele Juda berichtet (siehe F.A.Z. vom 4. Februar). Die Münchener Neurologin hatte zwischen 1927 und 1944 eine Studie durchgeführt, die den Zusammenhang von "Genie und Irrsinn" klären sollte. Unter den Probanden für die Studie finden sich so prominente Namen wie Bach, Mahler, Büchner, Goethe, Eichendorff, Heine - und eben Kleist. Bisher wurden diese Akten von der Forschung nur wenig beachtet. Auch juristische Unklarheiten hatten verhindert, daß einige Akten von Forschern eingesehen werden konnten. Viele der Aufzeichnungen fallen auch jetzt noch unter die ärztliche Schweigepflicht und werden vorerst nicht freigegeben.

Reinhard Pabst war bei seinen Recherchen im Münchener Max-Planck-lnstitut, das die Akten heute beherbergt, auch auf die Mappe mit den Schriftstücken zu Heinrich von Kleist gestoßen. Mehr als diese Tatsache teilte er der Öffentlichkeit in seinem Artikel auch gar nicht mit. Er beließ es bei Andeutungen: Von der berühmten Würzburger Reise des Dichters war die Rede, deren Anlaß und Ablauf für die Forschung immer noch im dunkeln liegt. Und den Winter 1802/1803 erwähnte der Büchner-Experte - ein weiterer weißer Fleck in Kleists Biographie. Denn noch immer nicht konnte zweifelsfrei geklärt werden, ob es zur persönlichen Begegnung zwischen Goethe und Schiller auf der einen und Kleist auf der anderen Seite kam.

Im gesamten Artikel suggerierte Pabst, was er in einem Satz zusammenfaßte: "Es ist zu erwarten, daß hier unbekannte Tatsachen und neue anamnestische Details zu den ,unerklärlichen' Phasen im Leben Kleists zu finden sein werden." Spekulationen machten die Runde: Hatten die Nachkommen Kleists, die ausgiebig befragt worden waren, am Ende gar Zeugnisse von Kleists Hand an die Ärztin weitergegeben, weil diese versprochen hatte, die Erkenntnisse ausschließlich anonym zu verwerten? Hatte ausgerechnet die Psychiaterin die Angst der Familie vor einer weiteren Psychopathologisierung des Dichters durchbrechen können? Die Antwort auf diese Fragen ist schlicht und enttäuschend zugleich: Nein.

Ein Blick in die Akten bestätigt das: Die Aufzeichnungen der Münchener Wissenschaftlerin sind in medizinhistorischer Hinsicht sicherlich interessant, die Kleist-Forschung werden sie aber gewiß nicht revolutionieren. Das lag auch gar nicht in der Absicht Adele Judas, der die Person Heinrich von Kleists lediglich als "Index-proband" in ihrer Aufstellung diente. Dem Dichter kam bei den Untersuchungen kaum mehr Beachtung zu als seinen Verwandten und Nachkommen. Anders als bei zeitgenössischen Genies mußte sich die Neurologin in der Hauptsache auf Erkenntnisse der damaligen Literaturwissenschaft verlassen, die einiges an biographischem Material angesammelt hatte. So fand der Forschungsstand von 1930 bis 1940 Eingang in die Akten Adele Judas.

Die Untersuchungen zur Person des Dichters laufen auf ein dreiseitiges psychiatrisches Gutachten hinaus. Es liest sich nicht freundlich und stellt die befürchtete Pathologisierung Kleists dar. Gleich eingangs wird die Diagnose gefällt: "Nicht geisteskrank, schizoider Psychopath mit vielen hysterischen Zügen. Suizid. Sexuell pervers.'' Unter den Überschriften "Lebenslauf", "Psychisch", "Talente" und "Körperlich" zeichnet Juda das Bild eines gestörten, verunsicherten Menschen, dessen "krankhafter Ehrgeiz" ihm nicht nur "Schwermut und Maßlosigkeit in allen Dingen", sondern auch körperliche Beschwerden wie "Verstopfungen" und "einen gewissen Schmerz im Kopfe" verursachte.

In elliptischer Psychiaterprosa heißt es: "Als Student Alleingänger ohne Übermut, ohne Humor. In der Jugend ein schmerzhaft in sich hineinbohrender Mensch. Von Haus aus Künstlerseele voll Sehnsucht. Suchte Wahrheit und Pflichttreue. Stark sinnlich gehobene und ekstatische Stimmung vor dem Selbstmord, den er beging, weil er eine Gefährtin fand, um dem Einsamkeitsgefühl zu entgehen. Von glühendem, krankhaftem Ehrgeiz beseelt und tief gebeugt wegen der Nichtanerkennung seiner Dichtungen. Litt an chronischer Schwermut und ungeheuerlicher Maßlosigkeit in allen Dingen. Unbändiger Wandertrieb und absolutes Unvermögen, ein Amt zu übernehmen. Unbeständigkeit in der Liebe." Und weiter: "Fiel selbst bei Geringfügigkeiten der Exaltation anheim. Onanie mit Selbstvorwürfen. Schüchtern, stotterte, verlegen, errötete. Voll Geheimniskrämerei. Bot oft den Freunden an, gemeinsam zu sterben. Oft sehr zerstreut. Führte murmelnde Selbstgespräche. Sehr seltsam, bizarr. Unbewußt homosexuell. Nach Sadger war er bisexuell."

Erwähnung findet auch die traurige Anekdote um den angeblichen Mordversuch an seinem Freund Adam Müller: "Sagte plötzlich bei einem Spaziergang seiner Begleiterin, er müsse Müller töten, wenn dieser ihm nicht seine Frau abträte (von einer Neigung Kleists zu dieser Frau war niemandem etwas bekannt). Als später Müller mit ihm auf der Elbbrücke zusammentraf, machte Kleist in der Tat einen ernsthaften Versuch, ihn ins Wasser zu werfen." Zu Kleists Schwester Ulrike gibt es in der Akte nur einen Personalbogen, der aber zu keinem eigenen Gutachten mehr ausformuliert wurde. Als "homosexuell" und herrisch wird Kleists Vertraute da gekennzeichnet; er habe zu ihr ein Verhältnis unterhalten, in dem auch "sadistisch-masochistische Züge" zu unterscheiden gewesen seien.

Dazu tritt der sehr umfangreiche Schriftwechsel, den Adele Juda führte, um zu den immensen Daten zu kommen. Gemeinde-, Kirchen- und Friedhofsverwaltungen wurden ebenso angeschrieben wie Privatpersonen und Sanatorien. Die meisten Schreiben stehen aber nicht im Zusammenhang mit der Person Heinrich von Kleists, sondern nur mit seinen vielen Nachkommen.

Man kann also getrost zusammenfassen: Die Akte Adele Judas ist ein Dokument, das eine Momentaufnahme in der Kleist-Forschung oder besser: in der Dichterforschung ganz allgemein darstellt. Es erhält seine Brisanz nicht dadurch, daß es neue Erkenntnisse zum märkischen Dichter präsentiert, sondern einzig durch seinen wissenschaftlichen Ansatz - und die an der Forschung beteiligten Personen. Adele Juda handelte im Auftrag des damaligen Direktors der "Genealogisch-Demographischen Abteilung" des Kaiser-Wilhelm-Instituts, Ernst Rüdin. Dieser gilt als einer der Väter der nationalsozialistischen Eugenikgesetzgebung.

Eine Publikation der "Akte Kleist" aus der Höchstbegabtensammlung tut not. Nicht nur, damit die wilden Spekulationen innerhalb der Kleist-Gemeinde aufhören, sondern auch, weil das Material trotz der oben erhobenen Einwände für das eine oder andere Forschungsvorhaben auch für Literaturwissenschaftler einen Ansatzpunkt bieten kann. Aber: Die Aufregung darf sich legen.

(Sascha Feuchert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Giessen)