Reinhard Pabst

"Am wichtigsten Tage meines Lebens"

Kleists größtes Geheimnis - zwei vorzügliche Brief-Editionen rollen eines der berühmtesten Rätsel der deutschen Literaturgeschichte wieder auf


Erschienen in FOCUS, Nr. 47, 17. November 1997. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und FOCUS


Heinrich von Kleist war ein Spieler. Der Dichter liebte das Verwirrspiel mit rätselhaften Inschriften, geheimnisvollen Zeichen und vertauschten Buchstaben, das Versteckspiel mit Pseudonymen, mit Formeln und mit chiffrierten Signalen.

Vor allem die Briefe an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge enthalten häufig Andeutungen oder kodierte Mitteilungen. Sie waren freilich nicht selten der Empfängerin selbst unverständlich. „Wenn ich so etwas schreibe", ließ er darum „Wilhelmine wissen, stelle er sich vor, wie sie dereinst gemeinsam "diese Briefe durchblättern" würden, "und ich Dir solche dunklen Äußerungen erklären werde, und Du mit dem Ausruf des Erstaunens (reagieren wirst): ja so, so war das gemeint".

An vielen dieser zu knackenden Nüsse beißen sich Experten bis heute die Zähne aus.

Was zum Beispiel geschah an jenem "wichtigsten Tage meines Lebens" (Brief vom 16. November) im Herbst des Jahres 1800, als Kleist sich aus unbekanntem Anlaß in Würzburg aufhielt? Da es darüber keine Dokumente gibt, sind Kleists Briefe, die jetzt in zwei vorzüglichen Ausgaben vorliegen, die einzige (Des-)Informationsquelle. In seiner Korrespondenz hat Kleist die Spuren der Würzburger Reise so sorgfältig verwischt, daß sie geradezu zum Inbegriff seines vermeintlich dunklen rätselhaften Lebens geworden ist.

Für die Suche nach einem Schlüssel zu diesem größten Geheimnis in Kleists Leben sind die neuen Editionen von Peter Staengle und Klaus Müller-Salget/Stefan Ormanns ausgezeichnete Arbeitshilfen.

Beide Briefausgaben sind, jede für sich, ein Meilenstein der Kleist-Forschung. Staengles opulenter Band überzeugt durch die Faksimiles. Sie eröffnen einen neuen Zugang zur Korrespondenz des Dichters. Der Band von Müller-Salget/Ormanns imponiert vor allem durch die Leistung des für den Textteil verantwortlichen Herausgebers. Ormanns’ intensive und exakte Entzifferungsarbeit macht die Edition zu einem Meisterwerk der Kleist-Philologie.

Nicht minder beeindruckend ist die akribische Rekonstruktion der verwickelten Überlieferungsgeschichte der einzelnen Briefe. Sie liest sich wie ein Krimi. Ormanns ist jeder noch so winzigen Spur nachgegangen, hat in öffentlichen wie in privaten Sammlungen gestöbert und alte Auktionskataloge gewälzt, um der in alle Winde zerstreuten Kleistiana habhaft zu werden.

Höchst bemerkenswerte Funde sind ihm gelungen. Eines der eigenhändigen Schreiben Kleists, die der Bonner Germanist in Familienbesitz wiederentdecken konnte, wurde 1993 für 130 000 DM versteigert.

In einem Nachwort hat Müller-Salget die bisherigen Hypothesen zu Kleists mysteriöser Würzburger Reise übersichtlich zusammengefaßt: Ließ er dort eine Vorhautverengung ärztlich behandeln? Oder wollte der verkrachte Student sich dort habilitieren? War er nach Würzburg gereist, um die Herstellung von "Pickelgrün" auszukundschaften, also als ein Wirtschaftsspion? Oder traf er Freimaurer aus Jena und Paris zu Gesprächen ohne greifbare Resultate?

Das von Kleist zeitlebens streng gehütete Geheimnis seiner Würzburger Reise konnte bis heute nicht aufgedeckt werden. Kleists Spielleidenschaft läßt auf der Grundlage der Briefausgaben ein neue Indizienkette zu.

Nach seiner Verlobung mit Wilhelmine von Zenge, im April/Mai 1800, brauchte Kleist Geld. Er war ohne Einkommen und ohne Beruf.

Die gemeinsame Zukunft mochte der Preuße nicht "dem blinden Zufall überlassen", sondern er wollte dem Glück ein wenig nachhelfen Dazu tüftelte er "lange lange" einen "Plan" (Brief vom 21. August) aus, an dem er auch auf seiner Reise noch "täglich" feilte und der ihn finanziell in die Lage versetzen sollte, für Wilhelmines Lebensunterhalt zu sorgen.

Sein Freund Ludwig von Brockes war der einzige, den er in das Projekt einweihte. Brockes ließ sich davon überzeugen, "daß die Wahrscheinlichkeit eines glücklichen Erfolges groß" sei, und war nicht nur bereit, Kleist zu begleiten, sondern auch die stolze Summe von 600 Reichstalern in die Verwirklichung des Plans zu investieren. Er verfolgte damit "den selben Zweck" wie Kleist: Er wollte ebenfalls heiraten. Die Aussicht auf schnellen Gewinn, auf die "Früchte" einer großen "Tat", lockte beide.

Was für ein Plan aber könnte das gewesen sein? Kleist ließ lediglich durchblicken, daß er im Zusammenhang mit seinen mathematisch-philosophischen Studien stehe und etwas "aus eigener Erfindung" sei. Hatte er ein "System" ersonnen, mit dem er den "blinden Zufall" überlisten zu können glaubte? Der Dichter war sein Leben lang fasziniert vom Spiel mit dem Glück. Motivik und Metaphorik des Glücksspiels sind in seinen Texten auffällig präsent. Den "furchtbaren Augenblick, der ein ganzes Lebensgeschick unwiderruflich entscheidet", hat er in seinem dichterischen Werk immer wieder vergegenwärtigt.

Seit Jakob Bernoullis "Gesetz der großen Zahl", 1713, grübelten viele Gelehrte über das Problem der Berechenbarkeit hoher Augen im Würfelspiel. Der französische Mathematiker Laplace arbeitete seit 1795 an einem Standardwerk zur Wahrscheinlichkeitstheorie.

Kleist, der "arme Kauz" aus Brandenburg, legte sich den Tarnnamen Klingstedt zu und schlüpfte in die Rolle eines schwedischen Mathematikstudenten. Brockes maskierte sich als Bernhoff, Student der Ökonomie. Sie reisten inkognito, denn sie hatten mehr als ihr Geld zu verlieren. Sie wollten ihre adligen Familiennamen unbedingt geschützt wissen.

Die Reise sollte ursprünglich nach Wien gehen, dahin wo bekanntermaßen das "heillose Übel" des Glücksspiels "in einer fürchterlichen Ausdehnung" verbreitet war (so Ernst Moritz Arndt 1801). Auf dem Weg, in Dresden, erfuhren sie jedoch "Dinge", die sie kurzfristig ihre Route ändern ließen. Im Sommer 1800 waren die österreichischen Behörden dem (laut Polizeibericht) "berüchtigten Hasardspieler" Triangi - Ex-Offizier wie Kleist - und anderen Zockern dicht auf den Fersen, die in Wien "ihr Unwesen trieben". Dieses Pflaster war daher zu heiß.

Die beiden beschlossen, nach Würzburg auszuweichen. Sie wollten in jedem Fall "den Franzosen entgegen" reisen, deren Truppen bis zum Main vorzudringen drohten. Im Schatten der Front versprachen sie sich nicht zu Unrecht gute Bedingungen für ihr "Geschäft".

Ungefähr am 9. September 1800 stiegen sie im besten Würzburger Hotel ab. Zwei gar nicht knausrige ausländische "Akademiker" unter lauter Kaufleuten, Militärs und Aristokraten auf der Durchreise: Es gab keinen geeigneteren Platz in der vielbesuchten Handelsstadt als diesen, um ein Spiel mit dem Glück einzufädeln. Offiziell fragte man, wie überall, nach solchen "Vergnügungen" selbstverständlich "vergebens", notierte Kleist.

Anfangs dürfte alles nach Plan verlaufen sein. "Der Würfel liegt, und wenn ich recht sehe, wenn nicht alles mich täuscht, so stehen die Augen gut", schrieb Kleist noch am 13. September. Aber schon um den 15. September mußten Klingstedt und Bernhoff ihr Zimmer in dem "prächtigen Gasthofe" räumen und in ein billiges Privatquartier umziehen.

In den darauffolgenden Tagen waren sie offenbar fieberhaft bemüht, ihre Strategie zu überarbeiten, "wobei mir meine wissenschaftlichen Bücher, die ich aus Frankfurt mitnahm, nicht wenig zustatten kommen" (Kleist). Sie halfen indes ebensowenig wie Kleists Versuch, am Abend vor dem Tag, der die "wichtigste" Entscheidung bringen sollte, unter dem Rundbogen des Pleichacher Tors nach Fassung und Halt zu suchen: "Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen - und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt."

Der zweite Fehlschlag muß schwer gewesen sein. Kleist teilte der Verlobten am 23. September mit, sie werde "noch lange" ohne ihn leben müssen", "5 Jahre", wie er erst am 10. Oktober präzisierte. Oder "höchstens sechs" (Brief vom 13. November 1800). Nach anderthalb Monaten verließen Kleist und Brockes Würzburg erfolglos.

Kleist kam mit nichts als Schulden nach Hause, für die einmal mehr seine Schwester Ulrike aufkommen mußte. Die Verlobung platzte, Wilhelmine wurde 1803 die Frau eines anderen.

"Mein Alles", heißt es in Kleists Trauerspiel "Penthesilea" (1808), "hab' ich an den Wurf gesetzt; / Der Würfel, der entscheidet, liegt, er liegt: / Begreifen muß ich's - und daß ich verlor."