Stoiber oder Kleist?
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden
Eine Aktion des Kleist-Archivs Sembdner, Heilbronn
"Was verbindet den bayerischen Ministerpräsidenten mit dem Dichter Heinrich von Kleist", fragte in einem lesenswerten, gestern erschienenen Artikel die "Welt am Sonntag" (Nr. 3, 21. 1. 2007, S. 60 [leider nicht mehr online zugänglich]) und kommt zum Ergebnis: "Stoiber zeigt, dass Kleist irrte."
Und argumentiert, Bezug nehmend auf Kleists Essay "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden", daß die Sprache "dem Stoiber eine untreue Freundin geblieben" sei: "Während Kleist behauptete, im Zustand der Erregung ritten wir umso besser auf der Welle des Sprachflusses, bewies uns Stoiber mehr als einmal das genaue Gegenteil. Der Gedanke lauert in ihm wie eine Raubkatze, er will raus, er stürzt sich attackenartig auf das arme Sprachwerkzeug. Das geht eben manchmal schief."
Das Kleist-Archiv Sembdner fragt daher: Wie verhalten sich Denken und Sprechen tatsächlich zueinander? Entwickeln sich die Gedanken wirklich nicht beim Sprechen? Irrt Kleist tatsächlich?
Zu diesem Thema bittet das Kleist-Archiv Sembdner um Einsendungen, die es auf seiner Internetseite www.kleist.org veröffentlichen wird. Die ersten zehn Einsender erhalten als Dankeschön kostenlos eine soeben erschienene Biographie des Dichters (Peter Staengle: Heinrich von Kleist. Sein Leben). Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Als kleine Hilfestellung sei darauf hingewiesen, daß man den Kleistschen Text im Internet nachlesen kann (www.kleist.org/texte)
Pressemeldung, 22. 1. 2007, 9:33 Uhr
Zur Klarstellung: Bitte keine Polemiken und keine tagesaktuellen Seitenhiebe!
Die Antworten
Transrapid zum hellsten Punkt
(Eingang: 22. 1. 2007, 11:15 Uhr)
Aus Berlin erreichte uns Ende Januar eine aufsehenerregende Nachricht: "Stoiber zeigt, dass Kleist irrte", behauptete David Deißner in der "Welt am Sonntag".
Das ist natürlich Unsinn. Dass die Gedanken erst beim Reden mählich im Kleistschen Sinne verfertigt werden, daran kann es keinen Zweifel geben. Die berüchtigte Redekunst des zukünftig ehemaligen Ministerpräsidenten Bayerns, Edmund Stoiber, beweist keineswegs das Gegenteil.
Geht es doch in Kleists Texts um Grundlegenderes als rheotische Geschmeidigkeit. Es geht um das Verhältnis von Bewusstsein und Unterbewusstsein. Kleist geht davon aus, dass unser Denken ein ständiges Wechselspiel zwischen bewussten und unbewussten Vorgängen ist. Denken ist für ihn die Entdeckung im Unterbewussten schlummernder Gedanken und deren Überführung in die hellen Gefilde der Vernunft. Wie kann man von der "dunklen Vorstellung" zum "hellsten Punkt" gelangen?
Auf der Suche nach einer Art neuronalem Transrapid, der vergessene Ideen ins Bewusstsein befördert, stößt Kleist auf das Prinzip des Erzählens: Erst wenn wir anfangen zu erzählen, werden die Gedankenzüge in Fahrt gesetzt, ein reger Reiseverkehr belebt die Gegend zwischen Hirn und Herz. Diese These Kleists ist natürlich vor dem Hintergrund seiner Zeit zu lesen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird das Unterbewusstsein entdeckt. Man denke nur an den "animalischen Magnetismus" Franz Anton Mesmers oder die Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. Das Bewusstsein des Individuums erscheint als ein Segler, der verloren auf einem unendlichen Meer des Unterbewusstseins schwimmt. Das ist faszinierend und bedrohlich zugleich.
Schon in Kleists Werken wird dieser Gedanke sichtbar. Ob die Marquise von O..., Alkmene oder das Käthchen von Heilbronn: Die Ohnmacht, der Fall ins Unbewusste, hat den Schriftsteller immer fasziniert. Das Unbewusste erscheint einerseits als Gefährdung sicher geglaubter Strukturen, als Beleg für die "Zerbrechlichkeit der Welt". Doch sie ist auch Quell kreativer Kräfte.
Kleists Aufsatz überträgt diese Idee auf die Ästhetik. Für ihn ist es die Erzählung, die das Verhältnis zwischen Unterbewusstsein und Bewusstsein gestaltet. Wenn wir erzählen, graben wir im Unterbewusstsein nach vergessenen Ideen und fördern sie so zutage.
Nicht umsonst ist der Aufsatz in Briefform gehalten. Kleist teilt seine Gedanken Rühle von Lilienstern mit und verfertigt sie so nach und nach. Der Text ist das erste Beispiel seiner Ausführungen. Zahlreich sind die Beispiele, in denen große Geister Kleists Theorie übernommen und unsere Kultur bereichert haben. Wagner adressiert sein Buch "Oper und Drama", das die Oper revolutionierte, an einen "Freund", auch er verfertigt seine Gedanken mählich beim Reden. So wie sein Held Siegfried, der, kurz bevor er von Hagen ermordert wird, die Geschichte seines Lebens erzählt und dann, als er sich schließlich an Brünnhilde erinnert, in die Sonne der Erkenntnis blickt.
Oder Sigmund Freud, für den der Mensch in der Psychoanalyse dadurch geheilt wird, dass er fähig wird, seine Geschichte zu "erzählen". Über Freud führt auch eine direkte Linie zur Hirnforschung, die sich auf die Suche nach dem Unterbewusstsein gemacht hat. Dabei hat sie vieles von Freuds Lehre widerlegt. Es gibt jedoch auch Forscher, die Freuds Seelenmodell für so falsch nicht halten. Gerhard Roth etwa geht davon aus, dass sich die im Gehirn beobachtbaren Prozesse tatsächlich auf ein Bewusstsein und ein Unterbewusstsein schließen lassen. Wenn die Hirnforschung eines Tages tatsächlich die Existenz von "Ich" und "Es" belegen sollte, erschiene Kleists Aufsatz fast prophetisch. Schließlich sind Freuds Theorien nichts als Destillate der Theorien des beginnenden 19. Jahrhunderts.
Edmund Stoibers seit geraumer Zeit im Internet zirkulierender "Hauptbahhof/ Flughafen"-Rede" (http://www.wdr.de/radio/wdr2/sonderdetail/350992.phtml) gehört jedoch nicht zu den Textsorten, die Kleists Aufsatz untersucht. Schließlich geht es bei Kleist um die allmähliche Verfertigung der Gedanken "beim Reden" und nicht "bei einer Rede". Auch wenn Stoiber mehr als einmal die Wendung "im Grunde genommen" in den Mund nimmt und den Zuhörer mit seinen Gedanken nur schnell von A nach B führen will, so findet der Transrapid in seinem 1,14 Minuten langen Redeversuch nicht ins Ziel. Eine verhaspelte Politikerrede kann Kleists grundlegende Einsichten in die Psyche und Kunst des modernen Menschen nicht widerlegen.
Martin Schneider, Mühlbachstr. 37, 88316 Isny
Euer Ehren - statuieren wir: Denken ist ein Vergnügen. Sodann: Denken ist konkret. In welchem Sinne?
(Eingang: 22. 1. 2007, 14:22 Uhr)
Denken ist die Selbstbeschäftigung des Gehirnes mit sich selbst, zur Unterhaltung, zur Freude, im Sinne eines bestimmten Tuns, im freundlichen Spiel von Zweck und Absicht, im bösem Spiel von Zweck und Absicht, im Schweigen wie im Reden. Und was nicht noch mehr! Auf die Frage des Sü Dsi, warum Meister Kung (d.i. Konfuzius) das Wasser so sehr gelobt habe, antwortete Mong Dsi (d.i. Mong Ko, lat. Menzius): "Die Quelle sprudelt Tag und Nacht ohne Aufhören, sie füllt jede Vertiefung und fließt weiter bis zum Meer. So ist es, wenn es seinen Ursprung hat. Das hat der Meister als Gleichnis genommen. Wo aber kein wirklicher Ursprung ist, da sammelt sich im Hochsommer wohl der Regen, und alle Gräben und Kanäle sind voll. Doch kann man stehen und warten, bis alles wieder trocken ist. So schämt sich der Edle dessen, dass sein Ruhm seine Leistungen übertreffe".
Womit hinreichend die Sturzattacken des Gedankens (schon recht formuliert!) auf das arme Sprachwerkzeug bei Herrn Stoiber vorderhand erklärt wäre. Freilich, wie schwer, wie mühselig ist es, gegen das ständige Versiegen anzureden! Insofern ist es eine sehr akademische Frage, ob das Denken im Sprechen sich vervollkommne oder das Denken der Sprache voraus gehe. Sehen wir es als wahrhaft heroischen Kampf an, jedes Mikrophon in unerhörter Anstrengung ständig aufs Neue zu füllen.
Freilich: Wo hohle Köpfe zuhören, entspricht das eine dem anderen.
Das Denken, die Sprache und das Sprechen bleiben davon wesentlich unberührt.
Herzlich Edgar Oser
Kleines Gedankenkarussell zu Kleist und Stoiber
(Eingang: 22. 1. 2007, 16:27 Uhr)
Angenommen, ein Airbus 380 landet auf dem Heilbronner Hauptbahnhof. Dann haben die Passagiere mehrere Möglichkeiten, diesen freiwilligen Besuch zu nutzen.
Ein Teil von ihnen würde sich für Heinrich von Kleist entscheiden. In diesem Fall suchten die anwesenden Manager und Betriebsratsvorsitzenden sofort das Rotlichtmilieu auf, um mit dem Käthchen von Heilbronn eine Nacht zu verbringen.
Andere würden auf den Marktplatz gehen, sich am Käthchenhaus versammeln und darauf warten, dass das liebeskranke Kind herunterspringt. Da dieses Ereignis allerdings sehr selten stattfindet, müssten die enttäuschten Passagiere wenigstens an einer Stadtführung des früheren Bürgermeisters Paul Hegelmaier teilnehmen, der sich auf das Aufspüren von kulturellem Feinstaub in der Stadt spezialisiert hat.
Die Politiker unter den Passagieren könnten in Heilbronn nach Spuren von Edmund-Stoiber-Fans fahnden. Doch außer ein paar versprengten CSU-Mitgliedern würden sie nicht viel finden. In ihrer lebenslangen, vergeblichen Suche nach Erkenntnis und Profil würden sie sich frustriert mit den lokalen Politikerinnen und Politikern, denen dieses Problem nur zu vertraut ist, bei einem Glas Trollinger verbrüdern. Bei dieser Gelegenheit würde sich, bedingt durch das ungewohnte Getränk, plötzlich Edmund Stoiber zu erkennen geben, der inkognito unter einer Mönchskutte mitgereist ist. Mit Kleist verbindet ihn, dass er sich auf der Flucht vor einer rasenden, fränkischen Penthesilea befindet. Stoiber verließe allerdings die Runde als erster wieder, weil er gehört hat, dass seine ihn ständig verfolgende Widersacherin gerade dabei ist, mit einem ICE auf dem Flughafen Echterdingen zu landen. Später würde niemand mehr nachvollziehen können, wie es Stoiber geschafft hat, bereits zwei Stunden danach mit der Stadtbahn in Oberammergau anzukommen. Der Vatikan geht nur bedingt von religiösen Hintergründen aus. Nachdem der Oberbürgermeister alle Passagiere zu einem Essen in den Ratskeller eingeladen hat, bessert sich die allgemeine Stimmung allmählich. Vor allem die Politiker geraten nach reichlichem Genuss schwäbischen Weins ins Schwärmen und beginnen Reden zu halten.
So spricht Ulla Schmidt über "das allmähliche Verschwinden der Gedanken beim Reden" und Michael Glos ereifert sich mit schwerer Zunge "über das Marionettentheater" der Wirtschaft, an deren Fäden die Politiker hängen.
Am Schluss lassen alle Heilbronn hochleben, denn sie sind sich darüber im klaren, dass sie ohne den Airbus 380 nie in dieser Stadt gelandet wären.
Alexander Bertsch (Autor, und deshalb darf er auch ein bißchen "off topic" - GE)
Oi, oi, Stoiber
(Eingang: 22. 1. 2007, 19:22 Uhr)
Über das in Ehren (oder in Unehren?) über die Jahre ergraute "blonde Fallbeil" (F.J.S.) ergießt sich Spott und Hohn, und das wird nun so lange währen, bis er (ja wann wird das sein?) seine Ämter an andere übergeben hat, von denen übrigens nicht unbedingt eine höhere rhetorische Verfertigung ihrer Gedanken zu erwarten ist.
Edmund Stoiber ist (war) kein guter Redner, für einen Politiker eine fatale Schwäche, die, und das ist eigentlich erstaunlich, allerdings seinen politischen Aufstieg und seinen langen Verbleib nicht behinderte. Offenbar sind seine vielen Verhaspler und sein "armes Sprachwerkzeug" den meisten Wählern und seinem früheren Herrn und Protegé gar nicht aufgefallen. Einser-Jurist und miserabler Redner, ein Widerspruch? Wohl nicht, erläutert doch Kleist in seinem Brieftext, warum in einem Rigorosum seine Theorie, dass sich die Gedanken beim Reden allmählich verfertigen, nicht greifen kann.
Das Gelernte wird vom Gehirn abgerufen, und die Examinatoren sind's zufrieden. Voraussetzung sind Fleiß, Ausdauer, Beharrungsvermögen und ein gutes Gedächtnis, Eigenschaften, die auch dem vorletzten Bundeskanzler zu eigen waren, der ja ebenfalls über eine bescheidene Rednergabe verfügte. Fast schon vergessen.
Wenn auch die "vorpsychologischen" Kenntnisse Kleists von den modernen Wissenschaften heute überholt sind, so ist sein intuitiv erworbenes Wissen über Denken und Sprechen und deren wechselseitige Bedingtheit stupend.
Wo im Kopf so vieles durcheinander geht, wo einer nicht er selbst sein kann, sondern einer vermeintlichen Rollenerwartung seiner Parteifreunde und seiner Anhängerschaft hinterherhechelt, da kann das Kleistsche Modell von der "allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden" nicht funktionieren. Da hülfe nur, jede Rede schriftlich aufzusetzen und einzuüben, ein Aufwand, der einen Politiker mit so vielen Redeanlässen zeitlich überfordern würde.
Kleist hat schon Recht, und die Feststellung, dass er irrte, mag im Fall Stoiber stimmen, generell nicht.
Helmut Fiedler, Ludwigshafen am Rhein
Eine gute Rede...
(Eingang: 22. 1. 2007, 21:37 Uhr)
Eine gute Rede entwickelt sich von innen heraus. Man hört sich selbst sprechen, analysiert, was man gesprochen hat, und entwickelt daraus Gedanken, die man dann ausspricht und die man während der Rede beim Blick ins Publikum reflektiert. Man kann das nicht immer. Man muss den Kopf frei haben, bei spezifischen Reden die Materie beherrschen, bei Gelegenheiten auf ein gewisses Grundwissen zurückgreifen können, und man muss sich die freie Rede auch durch Üben erwerben.
Prof. Dr. H. Schaudig
Auf Ihre "Ausschreibung" reagiere ich, weil sie mich reizt
(Eingang: 23. 1. 2007, 16:19 Uhr)
Der Artikel, wie er zusammenfaßt, vereinfacht wohl mehr als notwendig. Kleists Essay ist sehr vielfältig und komplex. Aber eine "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" kann jedenfalls nur geschehen und geschieht auch oft, wenn man einen Gedanken erst zu entwickeln und Muße dazu hat. Tritt man aber - "etwas ganz anderes" - wie Stoiber vor eine Hörerschaft, muß man seine Gedanken, sein Programm bereits entwickelt haben oder hofft und glaubt wenigstens, es schon getan zu haben. In dem Falle empfiehlt Kleist, kann er nur dringend empfehlen, daß man seine fertigen Gedanken möglichst gut und rasch ausdrücken könne. Sonst eben geht es schief.
Bei beiden und anderen, ähnlichen Prozessen spielen - echt kleistisch - Widerstände eine Rolle. Die Erregung etwa und der Zwang, sich im Disput mehr anzustrengen, verstärken, meint er, den Sprachfluß und führen zu weiteren Ideen, Argumenten, die den Gedanken klären und vollenden und evtl. die Redeschlacht entscheiden. Sowohl der fertige Gedanke als auch der im Embrionalzustand mögen lauern wie eine Raubkatze - ein Vergleich, den der Journalist bringt und zu kläglichem Ende führt, nicht aber Kleist. Der denkt im ersten Fall an Anschleichen und immerhin triumphales Zupacken als Möglichkeit, im zweiten indes realiter an Examenskandidaten und Leute wie Stoiber; und in denen und ihrer Situation findet er eben nichts oder wenig, was treffsichere Raubkatzen-Sprünge begünstigte. Daß das Reden ein lautes Denken sein könne, setzt einfach voraus, daß einem "die Sprache mit Leichtigkeit zur Hand sei". Sonst hilft alle Erregung nichts und geht so eben etwas schief. Kleist rechnet durchaus mit dem Stoiber-Typ und bringt komische Beispiele dafür.
Der Journalist übersah das offenbar. Doch wer weiß, wie ich meine Gedanken über ihn entwickelte, wenn ich ihn läse.
Prof. Dr. Wolfgang Wittkowski, USA
Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft
(Eingang: 29. 1. 2007, 12:07 Uhr)
Zum Verständnis der politischen Mechanismen im bayrischen 'Intrigantenstadl' (Horst Seehofer) lese man nicht nur Kleists 'Allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden', ein Essay, dessen Demonstrationsexempel die anfangs so tröstlich gesetzte Klugheitslehre leider oft genug außer Kraft setzen, sondern besser Kleists 'Hermannsschlacht'!
Prof. Dr. Günter Blamberger, Köln