Verse wie Videoclips
Kleistpreis für Dirk von Petersdorff, einen Lyriker der jungen Generation
Dorothea von Törne in: Der Tagesspiegel, Berlin, 14. 1. 1998
(aus: Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn, Zeitungsausschnittsammlung)
Ein junges Talent mit "Brot und Obdach" auszustatten, war 1912 das erklärte Ziel des Kleistpreises, erstmals verliehen zum 100. Todestag des Dichters. In die Reihe der - neben Robert Musil und Hanns Henny Jahnn zu Berühmtheiten gewordenen - Bedürftigen tritt nun am 13. Juni im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg der Lyriker Dirk von Petersdorff, einst in Kiel beheimatet, jetzt Literaturwissenschaftler an der Universität Saarbrücken. "Die Blinden / veranstalten einen Brecht-Abend, ich / aber sehe: Als letzter Partner spielt / uns das Nichts die Bälle zurück", hieß es 1992 programmatisch in seinem ersten Gedichtband "Wie es weitergeht".
An den Schuhen, mit denen sein lyrisches Ich durch Boulevards und Bibliotheken tänzelt und durch alle Fußgängerzonen Europas hüpft, befindet sich stets Erde, nicht nur märkischer Sand. Mit Kleist aber geht er von der Mode zur Kunst und von der Kunst ins Café. Seine Figuren sind verstreute Wanderer, Suchende und Out-Door-Experten, die inmitten andriftenden Alltagsschrotts philosophische Diskurse führen und das Feld des Sagbaren mit fließenden Wortmontagen aus Stilebenen von erhaben bis salopp erweitern. Ironisch locker fischt er aus dem Zeitgeist die Phrasen, Floskeln und Philosopheme und spielt mit ihnen ein pointiertes Spiel. Auf gesprochene Sprache bauend, verdichtet er Begriffe des Gesehenen und Gehörten zu treffenden Genrebildern der individuellen und gesellschaftlichen Zersplitterung.
Was ihn von anderen Zweiunddreißigjährigen unterscheidet, ist die gänzlich ohne Jammerton gestellte Frage nach den Perspektiven und der Richtung der Entwicklung. Das klingt nie trocken, nie pathetisch, ist immer voller Witz; festgemacht an der "Entropie des Alltags". Lieber Hegels Tante als Hegel selbst zitierend, ist Dirk von Petersdorf schon lange ein Geheimtip für Leser, die im Zeitalter der Videoclips mit der Gedankenschere gerne Bilder aus dem Tagesgeschehen schneiden, um sie neu zusammenzufügen. Alles fließt. Die literarische Praxis ergänzt der Autor durch theoretische Exkurse. Zum Selbstverständnis des jungen Intellektuellen in Deutschland tragen seit einigen Jahren seine streitbaren Essays in Literaturzeitschriften bei.
Auch der zweite Lyrikband "Zeitlösung" (1995), wie der erste erschienen im S. Fischer Verlag, bietet ein bewegliches Kontrastprogramm aus biblischem Geraune und satirischer No-future-Attacke auf kalifornischem Highway. Der Dichter als postmoderner Schelm, der die Wandlungen der Zeit heraushört aus dem Geknirsche von Popcorn und Staub. Keine Wehmut, keine Protest- und Klagelieder, sondern die Veränderungen der Gegenwart als ein für die Dichtung brauchbares Material. Vor allem aber Nüchternheit: "Leute, die jetzt Gedichte lesen, / haben 5 Minuten Zeit / für eine Seite, / aber das reicht vollkommen."